Leseprobe aus dem Roman “Domschattenträume” von Karin Joachim

Domschattenträume – Eine rheinische Familiengeschichte

Köln, Sonnabend, 29. Mai 1929

Das Licht brannte schon eine Weile im Vorführraum des Modernen Theaters, dem ersten Kinoneubau Kölns. Das Publikum hatte das Lichtspieltheater in der Breite Straße bereits größtenteils verlassen, das Orchester hatte längst seine Instrumente zusammengepackt. Nur Karolina saß noch auf ihrem Sessel und blickte auf die silberne Leinwand, auf der sich zuvor Henny Porten mit ihrer viel gelobten Natürlichkeit in einer Doppelrolle fast die Seele aus dem Leib gespielt hatte. »Wehe, wenn sie losgelassen« hieß der Film, den sie heute zum ersten Mal gesehen hatte. Alle früheren Henny-Porten-Filme kannte sie in- und auswendig. Dieser aber war besonders, weil Henny Porten eine weitere Facette ihres Könnens zeigte, die der Komikerin. Mehrfach hatte heute der Saal vor Lachen gebebt. Das hässliche Dienstmädchen und die hübsche Hausfrau, diese beiden Frauentypen verkörperte Henny einfach auf eine unnachahmliche Weise. Ihrem Cousin Felix hatte Karolina es zu verdanken, dass sie bereits heute, wenige Tage nach der Uraufführung, Karten für die Vorstellung bekommen hatte. Wie er das nur immer anstellte? Henny Porten war eine Leinwanddarstellerin der ersten Stunde, so hatte es Karolina neulich in einem der Filmmagazine gelesen. Schon vor dem Krieg hatte sie mit ihrer Schauspielkunst das Publikum in den Bann gezogen. Gestern allerdings hatte Karolina ein Artikel in einer Zeitung regelrecht verärgert, in dem stand, dass ihr Idol zur alten Garde der Filmschauspielerinnen zu rechnen sei und die Zukunft neuen, moderneren Darstellerinnen aus Deutschland und Hollywood gehöre. Davon allerdings wollte Karolina nichts wissen. Eine eigenartige Anziehungskraft ging von dieser Schauspielerin aus, die zugegebenermaßen mit ihren 36 Jahren kein junges Mädchen mehr, sondern eine gestandene Frau war. Karolina wollte einmal genauso spielen können wie sie. Und dafür tat sie einiges. Aber davon durfte niemand etwas wissen, nur wenige Eingeweihte kannten  ihre Träume. Nicht einmal Felix, der belustigt an der Wand in der Nähe des Ausgangs lehnte, mit einer Zigarette spielte und sie beobachtete. »Fräulein Offermann!«, rief er fröhlich und doch ein wenig ungeduldig, als er merkte, dass sie heute besonders lange brauchte, um das Erlebte zu verarbeiten.

»Hör auf, mich so zu nennen, Felix!«, rief Karolina und drehte sich auf ihrem Sessel zu ihm um. Erst jetzt nahm sie, immer noch gebannt von dem Erlebten, die Leere im Zuschauerraum wahr.

»Wieso?«, feixte ihr Cousin und trat von einem Bein auf das andere. »Du bist doch Fräulein Offermann.«

Karolina erhob sich lachend, warf der silbernen Leinwand einen letzten Blick zu, schlängelte sich durch die leeren Sitzreihen und hüpfte mit nahezu kindlicher Anmut zu ihrem Cousin, der sich nun, da sie endlich wieder in der Realität angekommen war, zum Gehen wandte. Als er in der Bewegung innehielt, hakte sie sich bei ihm ein und ließ sich von ihm aus dem Zuschauerraum führen. Im Foyer entdeckte sie an einer Wand eine Fotografie, die Henny Porten zeigte. Sie ließ den Arm ihres Cousins los und rannte dorthin, um das Schild zu lesen, das unter der Fotografie angebracht worden war: »Fräulein Henny Porten bei des Eröffnung der Modernen Theaters am 31. Oktober 1912.«

»Felix, wusstest du das?«, rief Karolina.

Felix gesellte sich zu ihr. »Ja, richtig, das hatte mein Freund mir erzählt. Ich sollte es dir zeigen …«

»Ihr habt über mich geredet?«

»Ja, durfte ich nicht sagen, dass du Henny Porten verehrst?«

»Doch, doch«, murmelte Karolina, ergriff wieder Felix’ Arm und verließ mit ihm das Lichtspieltheater vorbei an der Schlange derer, die auf die letzte Abendvorstellung warteten. Auf der Straße vor dem Kino toste der Verkehr. Automobile und Motorräder knatterten an ihnen vorbei, manche hupten, ob zum Gruße oder als Warnung war nicht auszumachen. Auf den Gehwegen schlenderten gut gekleidete Menschen, Paare zumeist, aber auch vereinzelt Frauen ohne Begleitung und Grüppchen junger Männer. Das Leben hatte in den letzten Jahren eine erstaunliche Leichtigkeit bekommen, zumindest in Karolinas Kreisen. Und seit dem Abzug der britischen Besatzer vor wenigen Monaten machte sich überall eine gewisse Aufbruchsstimmung breit. Doch sie wusste, dass nicht alle

Kölner ein ähnlich unbeschwertes Leben wie ihre Familie führten. So zum Beispiel Felix’ Familie, die sich kein Haus im Stadtteil Marienburg leisten konnte. Auch Karolinas Vater, der angesehene Möbelfabrikant, dessen Herrenzimmer im ganzen Deutschen Reich vertrieben wurden, musste ohne Zweifel hart arbeiten und kam an manchem Abend erst spät nach Hause, wenn die Familie das Abendessen schon längst beendet hatte. Doch er und der väterliche Teil der Familie Offermann gehörten zu den obersten Kreisen. Karolina würde es nicht verwundern, wenn ihr Vater demnächst für den Kölner Stadtrat kandidierte. Dann ginge er beim Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer vielleicht bald ein und aus.

Ihr Leben im Villenviertel südlich der Altstadt war, jedenfalls solange sie noch zur Schule gegangen war, ganz nach Karolinas Vorstellungen verlaufen. Doch seit sie das Lyzeum mit einem akzeptablen Abschlusszeugnis verlassen hatte, waren zwei Jahre vergangen, während derer sie mehr oder weniger in den Tag hineingelebt hatte, so schien es von außen betrachtet zumindest. Doch im Geheimen arbeitete sie mit Fleiß und Herzblut an ihrer Schauspielkarriere.

“Domschattenträume”, S. 13-16 c) Karin Joachim und Gmeiner-Verlag GmbH

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