Leseprobe aus dem Ahr-Krimi „Krähenzeit“

LESEPROBE aus „Krähenzeit“, Band 1 der Reihe mit Tatortfotografin Jana Vogt

 

Nur ein sanfter Windhauch war hier oben zu spüren. Die frische, mildwarme Septemberluft umschmeichelte ihre Haut. Während letzte vereinzelte Nebelschwaden über das Tal hinwegzogen, strahlten die Weinberge bereits im Sonnenlicht. Die Blätter der Rebstöcke trugen noch das sommerliche Grün. Einige Blätter begannen sich an den Rändern leicht rötlich zu verfärben. Ein dezenter Hinweis, dass der Frühherbst vor der Tür stand. Ab und an drang das Geräusch eines im Tal fahrenden Autos in die Höhe. Um diese Uhrzeit und mitten in der Woche war kaum jemand unterwegs. Es war, als habe die Welt innegehalten für einen Augenblick. Die Zeit schien stillzustehen, die Idylle hatte alles Schlechte, Hektische und Brutale einfach zur Seite geschoben.

»Da, hörst du das?«, flüsterte Jana. Sie fühlte sich leicht und unbeschwert. »Da ruft ein Falke.« Und dann sah sie ihn auch schon, wie er die Thermik ausnutzend über dem Tal und den Weinbergen seine Bahnen zog mit dem tiefblauen Himmel als Bühne. Auf ihre Begeisterung erhielt Jana allerdings keine Antwort. Wie auch? Ihr Begleiter war ein Hund. Usti, eigentlich Sir Ustinov, ein fünfjähriger Airedale Terrier, den Jana fast überall hin mitnahm. Benannt hatte sie ihn nach dem berühmten Schauspieler Sir Peter Ustinov, dessen Paraderolle ihrer Ansicht nach der Meisterdetektiv Hercule Poirot aus der Feder der englischen Schriftstellerin Agatha Christie war.

Zwei Wochen Urlaub im Ahrtal, die hatte sich Jana redlich verdient. Vor allem nach dem Zwischenfall in der vergangenen Woche. Kurz flackerte die Erinnerung an die dunkle, feuchte Halle wieder auf, die Stimmen der Männer, den Atem dieses Dimitri. Sie spürte den Schnitt an ihrem Hals und das warme Blut, das aus der Wunde rann. Noch im Krankenhaus hatte sie der Polizeipsychologe besucht.

»Nehmen Sie das bitte nicht auf die leichte Schulter. Mit solch einer Erfahrung ist nicht zu spaßen«, hatte Mertens gemahnt.

Jana hörte einfach nicht hin und ließ es nicht zu, dass sich Begriffe wie »Posttraumatische Belastungsstörung«, »Flashbacks«, »Konzentrationsstörungen« oder »Spätfolgen« in ihrem Bewusstsein festhafteten. Was er da in epischer Breite geschildert hatte, hatte so rein gar nichts mit ihr zu tun!

Es kam Jana mehr als gelegen, dass sie für die kommenden beiden Wochen nicht nur ihren Urlaub eingereicht hatte, sondern dass dieser schon längst genehmigt war. Sie würde sich erholen und danach wieder ihren Dienst antreten. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, wollte sie noch einige Stunden arbeiten, wenigstens ihren Schreibtisch aufräumen. Doch ihr Chef hatte sie unverzüglich zu einem persönlichen Gespräch zu sich gebeten. Am liebsten hätte er aus ihrem anstehenden Urlaub eine Beurlaubung gemacht.

Aber das wollte Jana keinesfalls. An jenem Tag wischte sie – wie jetzt gerade wieder – mit einer energischen Handbewegung jegliche Bedenken und alle Erinnerungen weg. Ihr ging es gut und hier war es verdammt schön. Basta!

Jana war sehr früh aufgestanden und hatte als einer der ersten Gäste im Innenhof des Klostercafés von Marienthal einen Milchkaffee getrunken. An den Mauern der Kirchenruine wuchsen Efeu und wilder Wein. Die hohen Fensterlaibungen wirkten, so wie sie nun dastanden, fast ein wenig unheimlich. Selbst im Hier und Jetzt war für Jana der Hauch der Geschichte wahrnehmbar. Je länger sie dort saß, desto weiter waren ihre Gedanken in ferne Zeiten abgedriftet. Was mochte sich in früheren Jahrhunderten hier wohl alles ereignet haben? Auf eine unerklärliche Weise hatte sie dieser Ort magisch angezogen und sie war in weitere Träumereien verfallen. Irgendwann hatte sie sich dennoch loseisen können. Nun befand sie sich auf dem Weg zurück nach Ahrweiler.

Von einem Aussichtspunkt an der asphaltierten Straße, die sich den Berg hinaufschlängelte, blickte sie noch einmal – fast ein wenig wehmütig – durch hohe Nadelbäume hindurch zurück auf die Klostergebäude. Es wurde immer wärmer, sodass sie unter ihrem Langarm-Shirt, das die blau-grünen Flecken an ihren Armen verdecken sollte, bald ins Schwitzen kommen würde. So beschloss sie, zügig in ihr Hotel zurückzuwandern. Eigentlich hatte sie vorgehabt, einen Waldweg zu nehmen, aber die Idylle der schroffen Felsen, die mit den Weinbergen eine aparte Liaison eingingen, reizte sie sehr und so wählte sie nun diese Strecke für den Rückweg. Sie fühlte sich unbeschwert. Es kam ihr vor, als ob es den Zwischenfall in Köln nie gegeben hätte. Doch die körperlichen Spuren erinnerten sie ständig daran. Und nicht nur die. Ihr wurde schmerzlich bewusst, dass da doch etwas auf ihrer Seele lag: ein dunkler Schatten.

»Usti, bleib hier!«

Ihr Hund war offensichtlich weder ein geduldiger Landschaftsbetrachter noch hing er irgendwelchen schweren Gedanken nach. Nein, für ihn zählte der Augenblick, und offensichtlich gab es gerade etwas sehr Interessantes, das darauf wartete, weiter erkundet zu werden. Es waren Eidechsen, die immer wieder ihren Kopf zwischen den Steinen der Bruchsteinmauer hervorstreckten und die morgendliche Temperatur prüften. Die Sonnenstrahlen wärmten bereits genug, denn die wechselwarmen Tiere huschten zurück in ihre Verstecke, bevor Usti ihnen mit seiner neugierigen Nase zu nahe kommen konnte. Dem Terrier war seine Enttäuschung deutlich anzumerken. Jana wartete förmlich darauf, dass er mit den Vorderpfoten aufstampfen und »Menno!« rufen würde, was er natürlich nicht tat.

Stattdessen suchte er mit seiner Schnauze jede Spalte im Mauerwerk ab, die er noch halbwegs erreichen konnte. Dabei legte er sich ins Zeug und machte Männchen, um auch die Eidechsen oben in der Mauer erreichen zu können. Die Reptilien allerdings waren klug genug, sich nicht mehr blicken zu lassen. Usti wartete vergeblich auf ein erneutes Rascheln.

„Krähenzeit“, Seiten 10 bis 13

Kommentare sind geschlossen.